Einleitung

Mächtekongresse 1818–1822. Die schriftliche Hinterlassenschaft der Kongresse von Aachen, Troppau, Laibach und Verona

1. Einführung

Die Napoleonischen Kriege brachten eine Wende im Selbstverständnis europäischer Mächtepolitik. Nach 25 Jahren Krieg war das Ziel des Wiener Kongresses die Schaffung einer stabilen Friedensordnung, die dem Kontinent Ruhe und Stabilität verschaffen sollte. 1 Diese Friedensordnung war eng verbunden mit der Formierung des sogenannten Europäischen Mächtekonzerts. 2 Die Allianz der europäischen Großmächte prägte in den Jahrzehnten nach dem Wiener Kongress 1814/15 die europäischen Staatenbeziehungen und fungierte als kollektives Sicherheitssystem zur Verhinderung weiterer kriegerischer Auseinandersetzungen. Tatsächlich kam es zu einer rund 50 Jahre dauernden Friedensperiode, die nur von wenigen und kurzen, territorial begrenzten kriegerischen Auseinandersetzungen an den Peripherien Europas beeinträchtigt wurde. Eine Zäsur bedeutete in dieser Hinsicht erst der Krimkrieg (1853–1856), der als gesamteuropäischer Konflikt zu bewerten ist. 3 Doch auch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte das Europäische Mächtekonzert weiterhin Bestand und nahm bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs 1914 in unterschiedlicher Intensität und mit schwankendem Erfolg seine Rolle als Ordnungsfaktor in den internationalen Beziehungen wahr. 4

Diese intensivierte diplomatische Zusammenarbeit ist auf einen Wandel im Verständnis von Außenpolitik bei den verantwortlichen Protagonisten zurückzuführen. An die Stelle von Machtpolitik sei eine bisher nicht im selben Ausmaß praktizierte Kooperation getreten, welche durch die Erfahrungen aus den Napoleonischen Kriegen motiviert worden wäre. 5 Normative Basis und zugleich Ausdruck dieser intensivierten Zusammenarbeit war das vielschichtige Allianzsystem, das die europäischen Staaten seit 1814 miteinander verband. Ausgehend vom Vertrag von Chaumont vom 1. März 1814 existierten in Europa drei einander ergänzende Allianzsysteme: Die (geheime) Quadrupelallianz zwischen Österreich, Großbritannien, Preußen und Russland vom 20. November 1815 ; die 1818 gegründete Quintupelallianz, die sich unter Einbeziehung Frankreichs binnen kürzester Zeit als Europäisches Mächtekonzert konkretisierte; schließlich die 1815 durch Zar Alexander I. initiierte Heilige Allianz ,6 der beinahe alle europäische Staaten beitraten und so eine „famille européenne“ bildeten.

Der zentrale Punkt in der Konzeption des Allianzsystems war die intensive schriftliche und vor allem persönliche Kommunikation der europäischen Staatsmänner und Monarchen. Er wurde im Allianzvertrag vom 20. November 1815 fixiert. Artikel 6 legte fest, dass zu bestimmten Zeiten Gipfeltreffen zwischen Vertretern Österreichs, Großbritanniens, Preußens und Russlands stattfinden sollten: „To facilitate and to secure the execution of the present Treaty, and to consolidate the connections, which at the present moment so closely unite the 4 Sovereigns for the happiness of the World, the High Contracting Parties have agreed to renew their Meetings at fixed periods, […] for the purpose of consulting upon their common interests, and for the considerations of the measures which at each of those periods shall be considered the most salutary, for the repose and prosperity of Nations, and for the maintenance of the peace of Europe.“ 7 Damit wurden zwei qualitativ unterschiedliche Ziele verfolgt: Auf politischer Ebene dienten die Zusammenkünfte dazu, den primären Zweck der Allianz – die Einhegung und Stabilisierung Frankreichs – zu vereinfachen und sicherzustellen. Zugleich wurde die Vision formuliert, durch regelmäßige Treffen die engen Beziehungen zwischen den Mächten zum Wohl Europas zu befestigen. Sie stellten den Versuch dar, schwelende zwischenstaatliche Konflikte auf dem Verhandlungsweg durch Mediation oder politischen Druck zu lösen. Damit war ein Rahmen für Konsultationen und gemeinsames Handeln der Mächte geschaffen und ein qualitativer Sprung gegenüber früheren Friedensschlüssen gegeben.

Initiator dieser neuen Variante zwischenstaatlicher Kooperation war der britische Außenminister Robert Stewart, Viscount Castlereagh . Er war der Ansicht, dass viele Missverständnisse und Probleme im diplomatischen Verkehr „by bringing the respective parties into unrestricted communications common to them all, and embracing in confidential and united discussions all the great points in which they were severally interested“ 8 verhindert werden könnten. Daher verfasste er auch das erste Konzept für den gegenständlichen Paragraphen des Vertrags.

Zeitgleich mit dem Vertrag zur Quadrupelallianz wurde der Zeitpunkt der ersten Zusammenkunft der Mächte festgelegt: Im ebenfalls am 20. November 1815 ratifizierten Zweiten Pariser Frieden wurde der früheste Termin für den Abzug der alliierten Besatzungstruppen aus Frankreich nach dem Ablauf von drei Jahren, somit Ende 1818, fixiert.

2. Der Kongress von Aachen

Der Kongress von Aachen 9 war die erste Mächtezusammenkunft, die auf der Basis von Artikel 6 des Vertrags zur Quadrupelallianz einberufen wurde. Das zentrale Thema des Treffens war der Abzug der alliierten Besatzungstruppen, die seit dem Jahr 1815 in Frankreich stationiert waren. Die Vertreter Österreichs, Großbritanniens, Russlands und Preußens kamen am 29. September 1818 in Aachen zusammen und einigten sich in der dritten Sitzung am 1. Oktober 1818 auf den Abzug der Truppen. Darüber hinaus erklärten sie sich dazu bereit, den Status Frankreichs im europäischen Staatensystem neu zu überdenken. Die finanziellen Fragen konnten bis zum 9. Oktober geregelt werden; die genauen Bestimmungen diesbezüglich wurden in einem eigenen Vertrag fixiert . Die formelle Aufnahme Frankreichs in die Allianz der Mächte erfolgte in der 34. Sitzung am 15. November 1818. Gleichzeitig wurde nicht nur eine Erklärung veröffentlicht, welche die Ergebnisse der Beratungen einem breiten Publikum bekannt machte, sondern die alliierten Mächte schlossen auch einen Geheimvertrag, mit welchem sie sich erneut gegen ein allfälliges revolutionäres Frankreich verbündeten. Damit prolongierten sie die Bestimmungen der Quadrupelallianz und zeigten zugleich das immer noch schwelende Misstrauen gegenüber Frankreich.

Insgesamt behandelten die Mächte während der Zusammenkunft in Aachen elf Themenfelder. Dabei waren der Abzug der Besatzungstruppen und die Wiedereingliederung Frankreichs in die europäische Staatengemeinschaft mit 27 Sitzungen der wichtigste Punkt auf der Agenda des Kongresses. Doch auch andere Fragen standen auf der Tagesordnung: Die anwesenden Staatsmänner und Diplomaten beschäftigten sich zum einen mit Problemen, die mit den durch die Napoleonischen Kriege entstandenen politischen Umwälzungen in Europa in Zusammenhang standen. Hierzu zählen die Verhandlungen über Grenz- und Zollstreitigkeiten im Deutschen Bund (15 Sitzungen), die Frage des Schicksals der Familie Bonaparte (3 Sitzungen), oder die bereits 1814/15 in Wien verhandelten Punkte des zeremoniellen Rangs sowie der Juden im Deutschen Bund (jeweils 1 Sitzung). Ebenfalls behandelt wurden der mit den Napoleonischen Kriegen in Zusammenhang stehende Konflikt zwischen Dänemark und Schweden um die von Schweden zu entrichtenden Entschädigungszahlungen im Zuge der Erfüllung des Vertrags von Kiel vom Jänner 1814 (2 Sitzungen) sowie die Beschwerden der Einwohner von Monaco über das durch den neuen Herrscher eingeführte Regierungssystem (1 Sitzung).

Zum anderen wiesen die Verhandlungspunkte aber auch einen globalen oder humanitären Charakter auf. Wie bereits während des Wiener Kongresses wurden auch in Aachen die Abschaffung des Sklavenhandels (5 Sitzungen) sowie die Piraten aus den nordafrikanischen Gebieten und die von ihnen gemachten christlichen Gefangenen (4 Sitzungen) thematisiert. Ein neues Thema, das die globale Ordnung betraf, war Südamerika. Die Revolutionen in Übersee standen ebenso wie der Konflikt um Montevideo auf den Tagesordnungen der in Aachen versammelten Staatsmänner (6 Sitzungen). Zudem befassten sich die Mächtevertreter mit dem Schicksal der schwedischen Ex-Königin und ihrer Familie (1 Sitzung). Zum Teil wurden also Themen wieder aufgenommen, die bereits auf dem Wiener Kongress eine Rolle gespielt hatten, in anderen Punkten wurde den Mächten die Rolle eines Schiedsgerichts oder einer Beschwerdeinstanz zugesprochen, indem strittigen Fragen zur Mediation vorgelegt wurden.

Abseits der offiziellen Verhandlungen legte die russische Delegation den Vorschlag zur Schaffung einer Allianz aller europäischen Staaten vor, welche über den politischen und territorialen status quo wachen sollte. Dieser Plan wurde jedoch während des Kongresses nicht auf die Agenda gesetzt und war daher kein Teil der offiziellen Verhandlungen. 10

3. Die Kongresse von Troppau und Laibach

Im Laufe des Jahres 1820 brachen auf der Iberischen und der Italienischen Halbinsel mehrere konstitutionelle Revolution aus. In Spanien, Portugal und im Königreich beider Sizilien führten die Protagonisten die Verfassung von Cádiz aus dem Jahr 1812 (wieder) ein, beriefen beziehungsweise wählten ein Parlament und beunruhigten durch ihre Aktivitäten die Staatsmänner des Mächtekonzerts. Diese befürchteten ein Übergreifen der Unruhen auf benachbarte Staaten; die Furcht vor von Geheimgesellschaften lancierten Aufständen und die Möglichkeit neuer Revolutionskriege, aber auch machtpolitische Überlegungen führten zur Einberufung des Kongresses von Troppau auf Basis von Artikel 6 der Quadrupelallianz 11 und unter Einbeziehung von Frankreich. Im Zentrum der Debatte stand die Revolution im Königreich beider Sizilien, die am 2. Juli 1820 mit einem Militäraufstand in der Stadt Nola ihren Anfang genommen hatte. 12

Die Verhandlungen und Gespräche ab 1820 zeigen die Vielschichtigkeit und Komplexität der europäischen Staatenbeziehungen in dieser Epoche, die nicht nur von außen-, sondern auch von innenpolitischen Erwägungen der einzelnen Regierungen bestimmt wurden. So waren sowohl die britische als auch die französische Regierung in dieser Phase politisch geschwächt: In Großbritannien litt die Bevölkerung unter der hohen Steuerlast, wirtschaftlicher Stagnation und Arbeitslosigkeit sowie steigenden Brotpreisen aufgrund von Missernten. Der Scheidungsskandal des britischen Königs George VI., der die Trennung von seiner Gemahlin Caroline von Braunschweig anstrebte, war schließlich der Anlass für massive Unruhen. 13 Frankreich dagegen war nach dem Ende der Napoleonischen Zeit innenpolitisch zerrissen: Royalisten und Liberale kämpften verbissen um die politische Vorherrschaft, ohne dass König Louis XVIII. maßgeblich zur Beruhigung der politischen Lage beitragen konnte. 14 Zudem sorgten Anschläge wie etwa auf den duc de Berry und Umsturzversuche wie die Cato Street Verschwörung, die das Ziel verfolgte die gesamte britische Regierung zu ermorden, europaweit für Unruhe. 15

Diese latent bedrohliche Lage führte bei der britischen Regierung zur Zurückhaltung bei potentiell schwierigen außenpolitischen Themen, wie etwa einer militärischen Intervention in einem von einer Revolution betroffenen Land. Zwar befürwortete die Regierung, respektive Außenminister Castlereagh , diese Maßnahme, doch war sie zu schwach um diese Haltung auch offiziell zu vertreten. Die Regierung in Paris wiederum versuchte vorerst erfolglos, Frankreich auch außenpolitisches Gewicht zu verleihen indem sie sich einmal an Russland, dann an Großbritannien anlehnte.

Österreich, Preußen und Russland entsandten bevollmächtigte Delegationen zu den Verhandlungen. 16 Zudem waren Kaiser Franz I. , König Friedrich Wilhelm III. und Zar Alexander I. persönlich in der schlesischen Kleinstadt anwesend. Großbritannien hatte sich schon im Vorfeld gegen einen Mächtekongress und ein europäische Behandlung der Revolution in Süditalien ausgesprochen. Stattdessen befürwortete Castlereagh einen Alleingang Österreichs, das von den Ereignissen angesichts der geographischen Nähe des zum Kaisertum zählenden Königreichs Lombardo-Venetien direkt von den Ereignissen betroffen war. Daher hatte der britische Gesandte keinerlei Verhandlungsvollmacht; seine Aufgabe beschränkte sich auf die Berichterstattung nach London. Frankreich schloss sich nach einigem Zögern der Haltung Großbritanniens an und entsandte ebenfalls nur Beobachter nach Troppau.

Das Resultat der Verhandlungen, die am 23. Oktober 1820 begannen, stand im Wesentlichen von Beginn an fest: Eine militärische Intervention, durchgeführt von österreichischen Truppen und gegebenenfalls von Russland unterstützt, sowie die Beseitigung der Verfassung. Mediationsvorschlägen, wie etwa eine Vermittlung durch den Papst oder den König Ludwig XVIII. von Frankreich, konnten sich nicht durchsetzen.

Aufsehen erregte das Protocole préliminare vom 19. November 1820. Diese Übereinkunft war in separaten Konferenzen durch die Bevollmächtigten Österreichs, Preußens und Russlands erarbeitet worden und postulierte ein Interventionsrecht in allen europäischen Staaten, in welchen eine Revolution ausbrechen würde. Der zweite Teil des Protocole préliminaire befasst sich mit der konkreten Anwendung dieses Interventionsrechts im Königreich beider Sizilien. Dieser Vorschlag stieß auf heftigen Protest der Vertreter Frankreichs und Großbritanniens. Das Thema einer Garantieerklärung gegen Regierungswechsel, die durch als illegitim qualifizierte Mittel herbeigeführt wurden, blieb virulent. Zwar wurde diese Frage in den offiziellen Verhandlungen nicht mehr angesprochen, doch arbeitete Metternich eine Denkschrift dazu aus, die in den Kongressakten einliegt. 17

Die größte Sorge der in Troppau versammelten Diplomaten und Staatsmänner war die Sicherheit von Ferdinand I., König beider Sizilien. Daher kamen sie überein, ihn zu den Gesprächen einzuladen, bei welchen er als Mediator zwischen den europäischen Mächten und der neapolitanischen ‚Nation’ fungieren sollte. Tatsächlich erteilte das Parlament in Neapel dem König die Erlaubnis, nach Norden zu reisen. Daraufhin verlagerten sich die Gespräche nach Laibach, da die Hauptstadt des Kronlands Krain von Italien aus leichter erreichbar war als Troppau in Schlesien. Neben König Ferdinand I. nahmen in der Folge auch Bevollmächtigte aus den anderen italienischen Herrschaftsgebieten teil, da auch diese Territorien durch den Ausbruch der Revolution im Königreich beider Sizilien direkt betroffen waren.

In Laibach zeigte sich die Kluft zwischen den Mitgliedern des europäischen Mächtekonzerts deutlich. 18 Während Frankreich die Beschlüsse zum Teil mittrug und auf diplomatischer Ebene nun auf die Linie Österreichs, Russlands und Preußens einschwenkte, verfolgte Großbritannien offiziell einen neutralen Standpunkt. Diese Formulierung darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass Großbritannien weiterhin für eine militärische Intervention im Königreich beider Sizilien votierte – doch sollte diese nicht auf Basis eines Beschlusses des Mächtekonzerts, sondern informell durch Österreich erfolgten.

Die Meinungsverschiedenheiten zwischen den Mächtevertretern waren auch die Ursache für die „Erfindung“ von Sitzungen in Laibach, die in dieser Form nie stattfanden. Die Protokolle der ersten sechs Sitzungen wurden von Friedrich Gentz um den 20. Jänner 1820 verfasst. Sie beinhalteten einen bereinigten Verlauf der Verhandlungen und trugen dazu bei, die festgefahrenen Gespräche wieder in Schwung zu bringen. 19

Dies änderte allerdings nichts an deren Resultat: Nach halbherzigen Versuchen, den Konflikt zwischen den europäischen Mächten und der Regierung im Königreich beider Sizilien durch die Aufhebung der Verfassung friedlich beizulegen, machten die Mächte den Weg schließlich frei für eine militärische Intervention. Diese Lösung wurde auch von den anderen italienischen Regierungen mitgetragen; nur der Vertreter des Kirchenstaats erklärte, der Heilige Stuhl werde sich in dieser Frage neutral verhalten und keine Erklärung abgeben. Es sei jedoch der Wunsch des Papstes, dass in Süditalien wieder Ruhe und Frieden einkehre.

Ab Februar 1821 drehten sich die Gespräche in Laibach um die Frage der inneren Verfassung des Königreichs beider Sizilien nach der Niederschlagung der Revolution. König Ferdinand I. legte diesbezüglich einen Reformvorschlag vor, der von den Diplomaten und Staatsmännern diskutiert und angenommen wurde. Eine Kommission, zusammengesetzt aus Vertretern der Mächte und neapolitanischen Funktionären, würde die Umsetzung dieser Verbesserungen, welche in Zukunft die Ruhe und den Frieden nicht nur in Italien, sondern dadurch auch in Europa garantieren sollte, überwachen. 20 Schließlich wurde beschlossen, im Laufe des Jahres 1822 neuerlich eine Mächtekonferenz einzuberufen, auf welcher über das Ende der militärischen Okkupation im Königreich beider Sizilien beraten werden sollte.

4. Der Kongress von Verona

Im Jahr 1822 kamen die Vertreter der Mächte in Verona zusammen,21 um, wie in Laibach beschlossen, über das Ende der militärischen Okkupation des Königreichs beider Sizilien zu beraten. Allerdings hatte der Lauf der Ereignisse die Ergebnisse der diplomatischen Zusammenkunft von 1821 überholt: In Spanien herrschten nach der Revolution von 1820 nun bürgerkriegsähnliche Zustände, welche – folgt man der Sichtweise der französischen Regierung – die Ruhe und Sicherheit in Frankreich gefährdeten. Zudem war im Frühjahr 1821 im Königreich Sardinien-Piemont ein Aufstand ausgebrochen, der von österreichischen Truppen umgehend niedergeschlagen worden war. 22 In der Folge wurde auch in diesem Herrschaftsgebiet eine österreichische Besatzungsarmee stationiert.

Daher verhandelten die Vertreter der Mächte in Verona nicht nur über den Abzug der österreichischen Truppen aus dem Königreich beider Sizilien, sondern auch aus dem Königreich Piemont-Sardinien. Während sich die Lage im norditalienischen Königreich ruhig präsentierte und die Mächte auf den Vorschlag von König Carlo Felice, die Truppen rasch abzuziehen, eingingen, war die Situation in Süditalien komplex. König Ferdinand I. fühlte sich immer noch bedroht und ersuchte nicht um Abzug, sondern um Reduktion der österreichischen Kontingente in seinem Königreich.

Das wichtigste Thema der Verhandlungen waren allerdings die Verhältnisse in Spanien und der Umstand, dass Frankreich sich an seinen Grenzen zur Iberischen Halbinsel bedroht sah. Daher sicherten Österreich, Russland und Preußen der französischen Regierung ihre Unterstützung für den Fall einer militärischen Intervention im Nachbarland zu. Während Frankreich in Troppau und Laibach aufgrund seiner innenpolitischen Probleme kaum eigenständig agierte und keine Akzente setzten konnte, trat die Pariser Regierung 1822 energisch auf. Nun wurden die innenpolitischen Konflikte nach außen getragen: 1823 marschierte ein französisches Heer in Spanien ein und beendete das konstitutionelle Experiment. 23

Doch ähnlich wie in Aachen standen auch in Verona noch weitere politische, humanitäre und wirtschaftliche Fragen auf der Agenda, wie etwa die angespannten Beziehungen zwischen dem Osmanischen Reich und Russland und – damit verbunden – der griechische Unabhängigkeitskampf, die Frage des Sklavenhandels, das Verhältnis der europäischen Mächte zu den ehemaligen spanischen Kolonien in Südamerika, die Frage der freien Flussschifffahrt sowie das Schicksal beziehungsweise der Aufenthaltsort von Mitgliedern der Familien Bonaparte und Murat und Rechtsansprüche aus der Napoleonischen Zeit.

5. Ausblick

Der Kongress in Verona war die letzte auf Basis von Artikel 6 des Vertrags zur Quadrupelallianz einberufene Mächteversammlung. Sieben Jahren nach ihrem Beginn hatte diese Form der Konsultationspraxis ihr Ende gefunden. Die Gründe dafür sind vielfältig. Zum einen sind sie im Ableben maßgeblicher Protagonisten und Verfechter dieser Art des diplomatischen Austauschs zu suchen: der britische Außenminister Castlereagh nahm sich 1822 das Leben, und Zar Alexander I. starb 1825. Die Politik von Castlereaghs Nachfolger George Canning orientierte sich nicht mehr im selben Ausmaß an europäischen Erfordernissen. Er galt als Gegner der Idee des europäischen Mächtekonzerts und verfolgte primär Interessen Großbritanniens, dessen Einfluss insbesondere in Südamerika er ausdehnte. Canning war zudem ein strikter Verfechter des Nicht-Interventionsprinzips und orientierte sich in seiner Politik am ‚Willen der Nation’. Die Außenpolitik von Zar Nikolaus I. war ähnlich ausgerichtet: Das Ziel war die Ausdehnung des russischen Einflusses im Vorderen Orient, was das Ende der auf politische Stabilität und Beibehaltung des status quo gerichteten Politik Alexanders I. bedeutete. 24 Auch der Griechische Unabhängigkeitskrieg stellte das Europäische Mächtekonzert auf eine harte Probe, da in diesem Fall die außenpolitischen Interessen einander diametral gegenüberstanden: Während Metternich die Stabilität im Nahen Osten zu erhalten suchte und daher das Osmanische Reich diplomatisch unterstützte, verfolgten insbesondere Russland und Frankreich, aber auch Großbritannien ihre nationalstaatlichen und hegemonistischen Interessen, die sie auf eine Schwächung der Hohen Pforte abzielten. 25

Dennoch kam die Praxis multilateraler Konsultation zwischen den europäischen Staaten nicht zum Erliegen. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts kamen die Vertreter der Mächte immer wieder zu Konferenzen zusammen, um über internationale Konflikte zu beraten und eine politische Ordnungsfunktion auszuüben. Bei über 40 solcher Treffen wurden Mediationsstrategien beraten, Konfliktmanagement betrieben und konzertierte Maßnahmen zur Erhöhung des diplomatischen Drucks festgesetzt, um militärische Auseinandersetzungen zu verhindern und den Frieden in Europa zu sichern. Auch wenn nur grundlegende Schritte zu seiner institutionellen Verfestigung gelegt wurden, existierte und funktionierte das Europäische Mächtekonzert zumindest bis zum Ausbruch des Krimkriegs. Doch auch danach kam es weiterhin zu Konferenzen zu und internationaler Kooperation, bis der Erste Weltkrieg eine endgültige Zäsur brachte. 26

Das Allianz- und Bündnissystem, das die Staaten Europas nach dem Wiener Kongress miteinander verband, sowie die Vermittlungs- und Ordnungsfunktion, welche das Europäische Konzert im Laufe des 19. Jahrhunderts immer wieder ausübte, legen den Vergleich mit multilateralen Friedensorganisationen des 20. Jahrhunderts nahe. Tatsächlich rekurrierten die Staatmänner, die 1919 die Organisationsstruktur des Völkerbunds konzipierten, auf die Struktur des Mächtekonzerts. Dies spiegelt sich im Gremium des Völkerbundsrats wider, der aus fünf ständigen Mitgliedern sowie mehreren nicht-ständigen Mitgliedern zusammengesetzt war und sich in regelmäßigen Abständen traf, um unter anderem Fragen der Friedenssicherung zu besprechen. 27 Nach 1945 fand der Völkerbundsrat im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen seinen Nachfolger, der im Wesentlichen dessen Organisationsstruktur und die Aufgaben übernahm. 28

Das Europäische Mächtekonzert manifestierte sich in verschiedenen Ausprägungen und findet bis heute seine Nachfolger. Die flexible, der jeweiligen politischen Interessenlage geschuldete Auslegung und Nutzung der Allianzsysteme eröffnete mehrere Möglichkeiten der internationalen Kooperation auf unterschiedlichen Ebenen – von den Monarchentreffen und Mächtekonferenzen des Wiener Systems über institutionalisierte Botschafterkonferenzen bis hin zur Konsultationspraxis in Phasen der Krise. 29 Im Fokus dieser Edition stehen die Mächtekonferenzen, die zwischen 1818 und 1822 einberufen wurden, um über aktuelle politische Probleme zu beraten. Ihre schriftliche Hinterlassenschaft in Form von Protokollen, Denkschriften und Noten, wie sie im Haus-, Hof- und Staatsarchiv in Wien überliefert sind, wird in der vorliegenden Edition aufgearbeitet.

1 Vgl. dazu grundlegend Schroeder, Transformation. Vgl. auch Schneider, Der Wiener Kongress, bes. S. 187–191.
2 Zur Begriffsbildung vgl. Baumgart, Europäisches Konzert und nationale Bewegung, S. 151–161. Zum Mächtekonzert vgl. Schulz, Normen und Praxis; Jarrett, The Congress of Vienna and its Legacy; Pyta, Das europäische Mächtekonzert; de Sédouy, Le concert européen; Pyta, Konzert der Mächte und kollektives Sicherheitssystem.
3 Vgl. dazu Schroeder, Austria, Great Britain, and the Crimean War. Auch die Ereignisse des Jahres 1848 stellten das Europäische Mächtekonzert auf die Probe; vgl. dazu Hahn, Die Revolutionen von 1848.
4 Vgl. Schulz, Normen und Praxis, bes. S. 684.
5 Vgl. dazu grundlegend Schroeder, Transformation. Kulturgeschichtliche Ansätze haben für diesen Wandel in der politischen Mentalität die Begriffe „Generation“ und „Erinnerung“ fruchtbar gemacht. Zum Begriff der Erfahrung als historische Kategorie vgl. Pyta, Kulturgeschichtliche Annäherungen, bes. S. 17–21. Zur „Generation Metternich“ siehe Externbrink, Kulturtransfer.
6 Vgl. dazu Schubert, Pyta, Die Heilige Allianz; Ghervas, Réinventer la tradition; Menger, Die Heilige Allianz.
7Zitiert nach British and Foreign State Papers, Bd. 3, S. 273–280, hier S. 279.
8 Zitiert nach Webster, The Foreign Policy of Castlereagh, Bd. 2, S. 56.
9 Vgl. Duchhardt, Der Aachener Kongress 1818; Jarrett, The Congress of Vienna, S. 180–205; Webster, The Foreign Policy of Castlereagh, Bd. 2, S. 119–172; Koschier, Der Aachener Mächtekongress; Taack, Die Affären gehen gut.
10 Vgl. dazu Jarrett, The Congress of Vienna, S. 184–190; Webster, The Foreing Policy of Castlereagh, S. 142–166; Schmalz, Versuch einer gesamteuropäischen Organisation, S. 39–44.
11 Vgl. dazu Jarrett, The Congress of Vienna, S. 223–247; Webster, The Foreign Policy of Castlereagh, S. 226–284; Schroeder, Metternich's Diplomacy at Its Zenith, S. 25–59.
12 Vgl. Romani, The Neapolitan Revolution; Späth, Revolution in Europa, S. 139–149.
13 Vgl. Smith, George IV; Feuerstein-Praßer, Caroline von Braunschweig.
14 Démier, La France de la restauration; de Waresquiel, Benoît, Histoire de la Restauration; Marcowitz, Großmacht auf Bewährung.
15Roullet, Récit historique; Stanhope, The Cato Street Conspiracy.
16 Zu den Verhandlungen vgl. Jarrett, The Congress of Vienna, S. 248–270; Webster, The Foreign Policy of Castlereagh, S. 285–311; Schmalz, Versuch einer gesamteuropäischen Organisation, S. 59–92; Schroeder, Metternich's Diplomacy at Its Zenith, S. 60–103; de Sédouy, Le concert européen, S. 107–114; Bertier de Sauvigny, Metternich et la France, Bd. 2, S. 359–416.
17 Vgl. ÖStA, HHStA, St.K. Kongressakten, Kart. 21, Fasz. 39, fol. 195–227 (2 Fassungen). Die Akten wurden nicht in die Edition aufgenommen. Die Denkschrift wird ausführlich analysiert von Schroeder, Metternich's Diplomacy at Its Zenith, S. 87–91.
18 Vgl. dazu Jarrett, The Congress of Vienna, S. 270–281; Webster, The Foreign Policy of Castlereagh, S. 312–345; Schroeder, Metternich's Diplomacy at Its Zenith, S. 104–128; de Sédouy, Le concert européen, S. 114–125; Bertier de Sauvigny, Metternich et la France, Bd. 2, S. 417–473.
19 Detailliert beschrieben bei Bertier de Sauvigny, Metternich et la France, Bd. 2, S. 443–448. Gute Zusammenfassung bei Jarrett, Congress of Vienna, S. 272–274.
20 Vgl. dazu den Quellenbestand im ÖStA, HHStA, St.K., Kongressakten, Kart. 23.
21Vgl. Irby C., The European Pentarchy; Jarrett, The Congress of Vienna, S. 309–338.
22 Ebd., S. 281–284; Broers, Napoleonic Imperialism, S. 480–524; Ders., The Restoration in Piedmont-Sardinia.
23 Bernecker, Spanische Geschichte, S. 61–62.
24 Pyta, Idee und Wirklichkeit der "Heiligen Allianz".
25 Šedivý, Metternich.
26 Schulz, Normen und Praxis.
27 Pfeil, Der Völkerbund, S. 45–62.
28 Jarrett, The Congress of Vienna, S. 370–371.
29 Schulz, Normen und Praxis. Baumgart, Europäisches Konzert und nationale Bewegung.